Die Beschäftigung mit der Musik von Stefan Wolpe reicht in meine Studienzeit zurück. Die Biographie Wolpes hat mich im Kontext der Katastrophen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der daraus resultierenden Emigrations- und Flüchtlingsbewegungen interessiert, ein Thema das mich seit jeher begleitet.
Wolpes Klavierstücke sind durch die Jahre hindurch von sehr unterschiedlicher Gestalt. Die frühen Arbeiten noch konkret, Charakterstücke in freitonaler Sprache, daneben Stücke wie Rag-Caprice, Tango (beide 1927) und Marsch Nr. 1 (1929), die auf der Folie von tradierten Tanzformen nur noch mit deren Bruchstücken operieren. Die Stehende Musik (1925), der einzige aus Wolpes 1. Klaviersonate erhaltene Satz, ist ein erster Monolith in Wolpes Schaffen, ein radikales und konsequentes Stück Klaviermusik, das rhythmisch repetitive Muster mit äußerster Energie an die Grenze des Erträglichen führt.
Stefan Wolpes enactments fand ich als Kopie des Autographen in der Bibliothek des Instituts für Neue Musik an der Freiburger Musikhochschule und war sofort fasziniert und überwältigt von der Vielfalt der musikalischen Strukturen, die keiner Schule, keiner Ideologie zuzuordnen sind, sondern frei und unabhängig von ästhetischen Schubladen leben. Sie sind Reisebeschreibungen einer imaginären musikalischen Landschaft, in der sich heterogene, bis ins Detail akribisch durchkomponierte Elemente zu einem gleichermaßen transparenten als auch hochkomplexen Ganzen verflechten. Ihr Erscheinungsbild ist vegetativ und mäandernd, dennoch gerichtet und von ursprünglicher, eruptiver Kraft, von spielerischer Eleganz und hohem Grad an Spontaneität. Oder wie Stefan Wolpe es in Lecture on Dada formuliert: ...curves hugely expanding, curves enormously contracting, new curves, a sound, a hit, a tone, a silence... Every event is so freshly invented, so newly born that it has almost no history in the piece itself but ist own actual presence, its now situation, and then the now situation is joined with another, with the next now – an unfoldment of nows.